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Stadt des Zorns

Tagesspiegel, Berlin
by Michael Nungesser © 2014

Ein geheimnisvoller Polyeder beherrscht den Ausstellungsraum. Das gigantische Kleinod, das aussieht wie ein großer Diamant, ist in Wahrheit aus Sicherheitsglas. Dass es einem funkelnden Firmament ähnelt, verdankt sich seinen unzähligen Bruchstellen. Miguel Rothschild nennt das Werk „La Reina del Plata“ (16 500 Euro) – die Königin des Río de la Plata, wörtlich: Silberfluss. Er bezieht sich damit auf die argentinische Kapitale, der man den stolzen Titel einst verlieh. Schlicht „Buenos Aires“ nennt sich die gesamte Ausstellung, mit der Rothschild seiner Geburtsstadt auf eine eigenwillig herbe Weise seine Referenz erweist.
Der konzeptuell agierende Künstler kam 1963 in Buenos Aires zur Welt, lebt aber schon seit Anfang der neunziger Jahre in Berlin, wo er bei Rebecca Horn an der Universität der Künste studierte. Sein Blick in die vertraute Ferne ist versponnen, melancholisch. Grundlage bilden vor allem große Farbfotos mit Hausfassaden und viel Himmel, urbane Ausschnitte, die verlassen wirken, unfertig, improvisiert. Zwischen den anarchisch wuchernden Gebäuden ärmlicher Stadtteile spannen sich Stromkabel und Telefondrähte, deren wildes Geflecht Rothschild durch Ritzen des schützenden Sicherheitsglases nachzeichnet. „Atrapasueños“ (je 4800 Euro) nennt er mehrere dieser Bilder und meint damit Traumfänger – fragile indianische Kultobjekte, inzwischen auch international folkloristische Mitbringsel, von denen man glaubt, ihre Netze könnten üble Nachtgedanken festhalten.
„La ciudad de la furia“ (6500 Euro) – die Stadt des Zorns – spielt wohl auf einen Song von 1988 der argentinischen Rockgruppe Soda Stereo an, der das Lebensgefühl einer Generation traf. Rothschilds Foto zeigt einen Ausschnitt des Stadtplans von Buenos Aires, wobei Glasritzungen den Verlauf von Straßen, Plätzen und Parks markieren. Umgekehrt folgt in „Stadt der Schatten“ der gezeichnete Grundriss den Sprüngen der Deckscheibe aus gebrochenem Glas. In „Parzen über Buenos Aires“, ein hinter Acrylglas kaschiertes Foto, führt Rothschild die über die Wohnkuben laufenden Kommunikationsdrähte als Schnüre über den Rahmen in den Raum: Buenos Aires im Fadennetz der Schicksalsgöttinnen. In „Elegie“ (11 000 Euro) werden die Risse und Fäden zu dichten Laufspuren aus Chlor, die sich wie ein Regenvorhang vor eine dramatische Wolkenlandschaft legen.
So, wie in dieser elegischen Hommage das Bild mit der Zeit von der ätzenden Flüssigkeit angegriffen wird und sich verändert, spielt Rothschild auch in „Memento mori. Work in progress“ (8400 Euro) auf Vergänglichkeit an – in dieser symbolischen Selbstdarstellung auch auf die eigene. Als beliebtes Motiv des Künstlers ist eine alte Geschäftsreklame zu sehen, ein von Wind und Wetter angegriffenes Ladenschild in Form einer Harfe („Creaciones Darling“). Es stammt von 1963, Rothschilds Geburtsjahr. Kommt man dem Bild näher, lässt ein Bewegungsmelder das Licht eines starken Scheinwerfers darauffallen. Auch dieses Foto wird sich verändern, wird heller, ätherischer, wird vergehen.